Amateurrapper Sayed bezirzt seine Angebetete mit Aperol und schlechten Reimen. Es scheint zu funktionieren.
Amateurrapper Sayed bezirzt seine Angebetete mit Aperol und schlechten Reimen. Es scheint zu funktionieren.
Screenshot Joyn

Im Leben macht man manchmal Sachen, die man besser für sich behält. Und schon gar nicht in eine Zeitung schreiben sollte. Aber wurscht: Jeden Donnerstag klebe ich leidenschaftlich vorm Fernseher und schaue gebannt zu, wie ATV die Grenzen des Zeigbaren in sozialpornografischer Manier weiter verschiebt.

In Tinderreisen fahren Menschen, die so besonders sind, dass der Sender sie gar nicht erfinden hätte können, durch Europa. Sie wollen mit der Dating-App ihr Glück finden. Dabei sehen wir, mit lustvoll voyeuristischem Kommentar versehen, die öffentliche Zurschaustellung ganz privater Momente. Das entwickelt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Wäre das nicht so faszinierend, sollte man das kritisieren. Aber Tinderreisen ist auch ein Zufluchtsort für wirklich echte Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten. Wo gibt es die im Fernsehen sonst überhaupt noch?

Verliebt ins tschechische Unterhaltungszentrum

"Should I follow you", fragt der 21-jährige Charbel auf ganz gruselige Art seine Verabredung. Getroffen hat er sie in Excalibur City, dem ominösen Shoppingvergnügungstempel kurz nach dem Grenzübergang zu Tschechien. Das mit Drachen und Burgen gestaltete Casinoparadies ist der perfekte Ort für ein erstes Date. Gegründet wurde dieser traurige Ort der Freude von Ronny Seunig, dem ehemaligen Betreiber des mittlerweile eingestellten rechtsextremen Monatsmagazins Alles roger?. Einer, der sein Geschäftsfeld nach Tschechien verlagert hat, nachdem die Glücksspielgesetze in Österreich verschärft wurden. Der beste Freund Falcos. Zumindest in Zeiten, als Österreichs einziger Popstar Geld brauchte.

Charbel kann noch nicht so gut mit Frauen sprechen.
Charbel kann noch nicht so gut mit Frauen sprechen.
Screenshot Joyn

Dass Charbels Verabredung möglichst schnell eine Ausrede sucht, um nach Hause zu fahren, scheint ihn gar nicht besonders zu stören. Viel mehr interessieren ihn sowieso in Österreich verbotene Feuerwerkskörper, Excalibur City ist wichtiger Umschlagplatz dafür. "Freind der Blosmusik, a wieder do", begrüßt ihn kurz darauf Kollege Patrick im Zimmer. Der hat bei seinem Date immerhin geschmust, will aber nach Prag, noch mehr Frauen kennenlernen. "Wos in Prag passiert, muas sie net wissen", sagt er ins Fernsehen.

Betrunken einmal um die Welt

In Krakau sind währenddessen Luis und Lev am Werk, die zappeligen und immer mehr als leicht beduselten Superstars des ATV-Trash-Multiversums. Nach seiner kurzlebigen Romanze mit Rebecca Rapp im Forsthaus Rampensau wirkt Lev diesmal aber wirklich fast verliebt. Nicht nur betrunken. Sissi in Barcelona interessiert sich erst für den ihrigen, als sie erfährt, dass dieser zwei Boote besitzt. Oder erzählt er das nur, um sie zu beeindrucken? "Das Herz, oder die Muschi, glaubt viel, wenn sie hungrig ist", ist sich Sissi sehr selbstkritisch bewusst.

Man kann sich bei Tinderreisen so wunderbar fremdschämen wie sonst nirgends. Wenn Charbel davon fantasiert, seine Jungfräulichkeit um 100.000 Euro an "irgendeine Fetischistin, die das mag", zu verkaufen, löst das eine Bandbreite von Emotionen zwischen Verstörung und Faszination für die menschliche Existenz aus. "Warum halt nicht?", fragt er seinen Kollegen Patrick eindringlich. Irgendwann in der Zukunft werden sich vielleicht Wissenschafter durch das ATV-Archiv kämpfen, um endlich die Conditio humana zu entschlüsseln.

Aber wenn man nach einem langen Tag einfach nur den eigenen Gehirnzellen genüsslich beim Platzen zuhören will, ist Tinderreisen auch für einen da. Warum halt nicht? (Jakob Thaller, 26.4.2024)