Noam Safir mit ihrem Großvater Schlomo Mantzur in früheren, glücklicheren Zeiten.
Noam Safir mit ihrem Großvater Schlomo Mantzur in früheren, glücklicheren Zeiten.
privat

Am langen, festlich gedeckten Tisch sitzen seine fünf Kinder und zwölf Enkelkinder, und am Kopf des Tisches thront Schlomo Mantzur. Von dort aus hat der 86-Jährige alle Familienmitglieder im Blick, "und er achtet darauf, dass es allen gut geht und dass sie auch genug zu essen haben", erzählt Noam. Die 20-Jährige spricht im Präsens – ganz so, als wäre ihr Großvater hier. Als könnte er wie jedes Jahr bei der Pessachfeier der Familie dafür sorgen, dass alles in der richtigen Ordnung verläuft. Wie in vielen Haushalten führt auch in Noams Familie der Großvater den Vorsitz am ersten Pessachabend.

Dieses Jahr aber bleibt Schlomos Stuhl leer. Noams Großvater wurde am 7. Oktober von den Terroristen aus seinem Kibbutz Kissufim im Süden Israels nach Gaza verschleppt. Fast 200 Tage sind seither vergangen. Vor einem Monat beging Schlomo, die älteste Geisel, seinen 86. Geburtstag in der Gewalt der Hamas. Und nun verbringt er dort auch das Pessachfest – wenn er denn noch am Leben ist.

Fest der Befreiung

Egal, ob religiös oder säkular, alle jüdischen Familien in Israel begehen Pessach auf ihre Weise. Man gedenkt der Befreiung der Juden aus ägyptischer Versklavung, viele geben der Feier aber auch einen heutigen Bezug. Vor einem Jahr, als in Israel Hunderttausende auf die Straßen gingen, um gegen die drohende Entmachtung der Justiz zu demonstrieren, feierten sie die kommende Befreiung von denen, die Israels Demokratie abschaffen wollten.

Ein Jahr später sind Benjamin Netanjahu und seine Rechts-außen-Koalition immer noch an der Macht, die Gefahr aus dem Inneren wurde längst von der Bedrohung von außen überschattet. Während zu Pessach an festlich gedeckten Tischen Weingläser gehoben und Mazzabrote gebrochen werden, wissen alle, dass nur ein Funke reicht, um einen Flächenbrand in der Region auszulösen. Doch der Regierung, die die Zügel in der Hand hält, vertraut man nicht mehr – am allerwenigsten die Familien der Verschleppten. Sie wenden sich daher an Europa, an die USA, in der Hoffnung, dass sich die Regierungen dort wenigstens für ihre eigenen Staatsangehörigen einsetzen. "Bringt mir meinen Großvater zurück", appelliert Noam.

Pogrom miterlebt

Noams Opa ist kein Sohn europäischer Juden. Der Regierung des Landes, in dem er geboren ist, ist sein Schicksal egal. Drei Jahre war Schlomo alt, als im Irak im Juni 1941 das Farhud-Massaker ausbrach – ein vom mörderischen Antisemitismus der Nazis inspiriertes Pogrom an den irakischen Juden. Schlomo versteckte sich unter dem Dach seines Elternhauses, musste mit ansehen, als die Eindringlinge seine Eltern schlugen und beraubten. Sie hatten Glück und überlebten. Als Schlomo dreizehn Jahre alt war, wanderte die Familie nach Israel ein – in der Hoffnung auf Sicherheit.

82 Jahre später kamen die Schlächter auch in Schlomos Haus. In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober fesselten sie ihn, schlugen ihn, entführten ihn in seinem Pyjama, zwangen ihn, die Autoschlüssel herauszugeben, und verschleppten ihn nach Gaza. Seither hat seine Familie nichts von Schlomo gehört. "Mein Opa ist der glücklichste Mann, den ich kenne", erzählt Noam. "Meine größte Angst ist, dass er aus Gaza als trauriger Mensch zurückkehrt."

Kaum Druck auf die Hamas

Wenn er irgendwann zurückkehrt. Nach unzähligen Verhandlungsrunden über einen möglichen neuen Geiseldeal liegen die Gespräche nun auf Eis. Die Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr der Geiseln ist so schwach wie nie zuvor. Israels Regierung verspricht zwar, die Verschleppten durch "militärischen Druck" auf die Hamas befreien zu können – doch von diesem Druck ist derzeit wenig zu spüren. Nachdem der Großteil der Bodentruppen aus Gaza abgezogen wurde, köchelt der Krieg auf leiser Flamme.

Einen dritten Weg zur Befreiung der Geiseln gibt es nicht – wer darauf hofft, dass die Hamas ihr wertvollstes Faustpfand freiwillig herausgibt, wird lange warten. Viele unter den Familien der Geiseln haben daher das Gefühl, dass die Regierung ihre Angehörigen längst aufgegeben hat. "Ich weine um ihn", sagt Noam über ihren Großvater. "Er sollte das bisschen Leben, das er noch hat, mit seinen Liebsten verbringen können." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 22.4.2024)