Dommaraju Gukesh ist der Mann der Stunde.
IMAGO/Norbert Wienold

Mit Superlativen soll man im Sport und anderswo vorsichtig sein. Aber wer Sonntagnacht europäischer Zeit die Übertragung der letzten noch laufenden Partie des Kandidatenturniers zwischen Fabiano Caruana und Jan Nepomnjaschtschi live gesehen hat, wird es wohl bestätigen: Es war vermutlich eine der spannendsten Schachpartien, die je gespielt wurden.

Das lag einerseits an der höchst ungewöhnlichen Ausgangssituation. Für den einen Platz an der Sonne – nämlich im WM-Finale gegen Weltmeister Ding Liren – gab es vor dieser letzten Runde immer noch vier aussichtsreiche Anwärter: den in Führung liegenden indischen Wunderknaben Dommaraju Gukesh sowie die drei ihn punktegleich verfolgenden Routiniers Jan Nepomnjaschtschi, Fabiano Caruana und Hikaru Nakamura.

Dass diese fantastischen Vier von Toronto dann auch noch zufällig in dieser letzten Runde in der Konstellation Nakamura vs. Gukesh und Caruana vs. Nepomnjaschtschi aufeinandertrafen, gab der Sache zusätzlich Pfeffer. Zumal Nepo und Caruana beide jeweils unbedingt einen Sieg benötigten, um es noch ins Tiebreak um den Turniersieg gegen – je nach Ausgang der anderen Partie – Nakamura oder Gukesh zu schaffen.

Nicht zu biegen

Auch für Hikaru Nakamura zählte am Sonntag nur der Sieg. Er fühle sich wohl in dieser Rolle, hatte der US-Amerikaner am Tag vor der Partie gesagt, werde locker an die Sache herangehen und alles versuchen. Das hat Nakamura dann auch getan, allein: Es hat nicht einmal gereicht, um den Teenager auf der anderen Brettseite ins Schwitzen zu bringen.

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In einem Angenommenen Damengambit fand Gukesh ausgangs der Eröffnung genau die richtige Aufstellung, um Nakamuras Hoffnungen auf einen Königsangriff im Keim zu ersticken. Wonach sich nur noch die Frage stellte, ob Naka rechtzeitig auf Remis-Sicherung umschalten oder aber die Partie überziehen, verlieren und den Inder damit unabhängig vom Ausgang des anderen Spitzenspiels zum Turniersieger machen würde.

Auch wenn Nakamuras eigene Hoffnungen mit einem Remis dahin waren: Der Weltranglistendritte riss sich zusammen, widerstand der Versuchung, mit fliegenden Fahnen unterzugehen, und gab die Staffel damit gleichsam selbstlos an seinen Landsmann Fabiano Caruana weiter. Denn der spielte parallel gegen den Langzeitführenden Jan Nepomnjaschtschi eine Glanzpartie, stand erst besser, dann viel besser, dann auf Gewinn. Und konnte mit einem Sieg ein am Folgetag zu spielendes Schnellschach-Tiebreak um den Turniersieg gegen Gukesh erzwingen.

Vampiristisch defensiv

Nun weiß aber jeder Schachspieler, wie schwer es sein kann, eine gewonnene Stellung zu gewinnen. Wenn auf der anderen Seite Jan Nepomnjaschtschi sitzt, der in Toronto bis dato ungeschlagen und dabei schon in einer Reihe von verloren geglaubter Partien vampirhaft noch einmal auferstanden war, wird die Sache nicht unbedingt leichter.

Und Nepo gab wieder einmal den Untoten: Dem Mehrbauern, den Caruana in einem Schwerfigurenendspiel aufschnupfte, hielt der Russe einen lästigen Freibauern auf der h-Linie entgegen, den er bis einen Schritt vor das Umwandlungsfeld vorgeschoben hatte. Bis kurz vor der Zeitkontrolle schien Caruana dennoch alles unter Kontrolle zu haben – aber dann unterlief ihm mit nur noch Sekunden auf der Uhr im 39. Zug ein folgenschwerer Fehler, der Nepo die ersehnte Chance zum Kontern gab: Mit einem Qualitätsopfer sicherte der Russe seinem Freibauern des Überleben, seine Dame knöpfte sich zugleich im Verein mit dem Springer Caruanas König vor.

They Left Everything On The Board | Nepo vs. Fabi | Candidates 2024
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Jetzt war die Stellung laut mitrechnenden Computerprogrammen plötzlich wieder ausgeglichen – hatte Caruana seine Chance verpasst? Noch nicht, denn die Lage war durch das Ungleichgewicht auf dem Brett so unübersichtlich und komplex geworden, dass auch Weltklasseleute wie Caruana und Nepo sie unmöglich fehlerfrei klären konnten. Den Zuschauern musste schwindlig werden: Mit fast jedem Zug änderte sich die Stellungsbewertung sprunghaft, mehrmals hätte Nepo mit perfektem, übermenschlichem Spiel wohl das Remis erzwingen können, mehrmals präsentierte Caruana geniale Ideen, um die Partie am Laufen zu halten.

Am Ende aber, als Fabiano Caruana wieder nur noch Sekunden verblieben waren, strauchelte der US-Amerikaner dann doch noch. Ein verlockendes Schachgebot mit dem Turm, zu dem Nepo ihn förmlich eingeladen hatte, erwies sich als falsche Fährte, die letztlich in ein ungewinnbares Damenendspiel mündete: Remis nach 103 Zügen, beide Kontrahenten aus dem Rennen um Platz eins.

Jüngster Herausforderer

Womit es dann amtlich war: Dommaraju Gukesh gewinnt mit neun aus 14 das Kandidatenturnier von Toronto und fordert Ende des Jahres den mit Formproblemen kämpfenden Weltmeister Ding Liren heraus. Ein historischer Moment, denn Gukesh – wie Ex-Weltmeister Viswanathan Anand aus Chennai (früher Madras) gebürtig – ist mit 17 Jahren der jüngste Spieler der Schachgeschichte, der sich für einen solchen WM-Zweikampf qualifiziert. Wann und wo Gukesh gegen Ding Liren um den WM-Titel spielt, steht noch nicht fest.

Den herausragenden Erfolg nahm der junge Mann, der in den letzten beiden Jahren rasant Richtung Weltspitze aufgestiegen war, erfreut, aber mit der für ihn typischen Gelassenheit und Ruhe zur Kenntnis. Und gab eine kleine Anekdote zum Besten: 2013, beim WM-Wettkampf zwischen Magnus Carlsen und Viswanathan Anand in Chennai, habe er, Gukesh, als sechsjähriger Dreikäsehoch, der gerade erst die Schachregeln kannte, gekiebitzt und die Atmosphäre aufgesaugt. Nur elf Jahre später wird er nun selbst um den höchsten Titel im Schach spielen.

Post-game Press Conference with Gukesh D and Hikaru Nakamura | Round 14 | FIDE Candidates
FIDE chess

Im parallel ausgetragenen Damenbewerb sicherte sich die Chinesin Tan Zhongyi, ebenfalls mit neun aus 14, den Sieg. Zhongyi erwarb sich damit das Recht, ihre Landsfrau, Schachweltmeisterin Ju Wenjun, herauszufordern. (Anatol Vitouch, 22.4.2024)