Mit dem Beschuss durch Hunderte von Drohnen, Cruise-Missiles und ballistischen Raketen vom Iran aus auf Israel in der Nacht zum 14. April hat der Krieg im Nahen Osten eine neue Qualität bekommen. Seit Jahren schon bekämpfen sich der Iran und Israel in einem "Schattenkrieg".

Einem Krieg im Verborgenen, der bis in die Straßen Teherans reicht durch Attentate auf führende iranische Atomwissenschafter und Ingenieure, in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Syrien und im Libanon und im Gazastreifen durch die palästinensische Terrororganisation Hamas und deren Raketenbeschuss auf Israel ebenso wie die schiitische Hisbollah im Libanon. Beide Organisationen werden massiv durch iranisches Geld, Waffen und Ausbildungshilfe seitens des Iran gefördert, ja bilden gemeinsam mit den jemenitischen Huthis eine enge Allianz in der sogenannten Achse des Widerstandes gegen Israel.

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Soll Stärke demonstrieren: eine Militärparade in Teheran.
Foto: Reuters / Majid Asgaripour

Mit dem Raketen- und Drohnenangriff durch den Iran auf Israel hat der Krieg im Nahen Osten eine neue Dimension erreicht, nämlich die direkte und offene militärische Konfrontation von Iran und Israel, welche die Mullahs in Teheran bis dahin immer zu vermeiden versucht haben. Das Regime im Iran muss sich entweder sehr stark fühlen oder gewaltig unter Druck stehen (oder beides mag zutreffen), dass es das Risiko eines "offenen Krieges" mit Israel und dessen westlichen Verbündeten, vorneweg die USA, eingeht, den es durchaus verlieren kann, was die Existenz des Regimes aufs Spiel setzt.

"Das eigentliche Ziel des Regimes in Teheran ist es, die gegenwärtige Ablösung der US-amerikanischen Weltordnung durch ein multipolares System der Rivalität großer Mächte für seinen eigenen Aufstieg in den Kreis der Weltmächte zu nutzen."

Auslöser für diese Eskalation des Nahostkrieges war ein Bombenangriff auf das Gebäude der Konsularabteilung der iranischen Botschaft in Damaskus, dem mehrere Angehörige der iranischen Revolutionswächter zum Opfer fielen, darunter zwei hochrangige Kommandeure. Dies waren keineswegs die ersten iranischen Opfer des "Schattenkrieges" in Syrien und im Libanon, nur dass sich diesmal die iranische Führung zu einem den USA gegenüber auf informellen Kanälen angekündigten Gegenschlag entschied. Der Krieg im Nahen Osten ist jetzt kein israelisch-palästinensischer Krieg allein mehr, kein Krieg um den Besitz desselben Landes, sondern dieser Krieg wurde mit dem Raketenangriff regionalisiert.

In Reichweite

Im Hintergrund droht zudem die offene Frage des iranischen Nuklearprogramms, das im Lichte der jüngsten Entwicklungen in Gaza und Teheran für Israel die größte Gefahr darstellt. Wird der Iran den Schritt hin zur Atommacht gehen, und kann dies ohne Krieg mit Israel und den USA geschehen? Zumal es dem Regime in Teheran um sehr viel mehr geht als um seine regionale Vorherrschaft.

Das eigentliche Ziel des Regimes in Teheran ist es, die gegenwärtige Ablösung der US-amerikanischen Weltordnung durch ein multipolares System der Rivalität großer Mächte für seinen eigenen Aufstieg in den Kreis der Weltmächte zu nutzen. Dazu bedarf es des Status einer Nuklearmacht, des Zugangs zu modernster Technologie und des Ausbruchs aus der sanktionsbedingten wirtschaftlichen Zwangsisolierung. All dies scheint für Teheran durch sein Bündnis mit Peking und Moskau und durch den Aufstieg des Globalen Südens in Reichweite zu sein.

Zwiespältige Lage

Zumal sich das theokratische Regime in Teheran aktuell in einer äußerst zwiespältigen Lage befindet: Innenpolitisch ist es aufgrund der Frauen- und Jugendproteste, aber auch jener von ethnischen Minderheiten wie in Kurdistan und Belutschistan, und der grassierenden Korruption unter der herrschenden Elite völlig diskreditiert und hat jede innere Legitimation verloren. Das Regime ist aus sich heraus ohne jede längerfristige Zukunftsaussicht und überlebt allein dank seines Unterdrückungsapparats. Auf Dauer, ohne jede innere Legitimation, lässt es sich aber auf Bajonetten allein schlecht sitzen.

Außen- und machtpolitisch ist seine Lage jedoch eine völlig andere. Dort zählt das theokratische Regime in Teheran zu den großen Gewinnern der Wachablösung der US-amerikanischen Weltordnung des vergangenen Jahrhunderts. Die Nuklearrüstung des Iran ist nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation gegenwärtig fortgeschrittener denn je, ja nähert sich der kritischen Grenze in der Urananreicherung an, ab welcher der Iran genügend atomwaffenfähiges Uran besitzen würde. Man muss zudem davon ausgehen, dass der Iran bereits heute über das Wissen um die Technologie zum Bau eines nuklearen Sprengkopfes wie auch über die dazu benötigten Trägersysteme verfügt.

Zudem entwickelt sich die veränderte weltpolitische Lage zu seinen Gunsten. Das Zweckbündnis des Iran mit Russland und China ist für Teheran von überragender Bedeutung, sowohl zivil als auch militärisch, weil es ihm die Möglichkeit bietet, aus seiner jahrelangen internationalen Isolierung auszubrechen. Dasselbe gilt für die generell wachsende Bedeutung des Globalen Südens in der internationalen Politik und die verstärkte Einbindung des Iran in diese neu entstandenen und entstehenden multilateralen Strukturen ohne und jenseits des Westens.

Der Krieg im Nahen Osten ist also Teil sehr viel weiter reichender Ambitionen, nämlich der, eine neue Weltordnung zu schaffen und die bisherige westlich-amerikanische Dominanz abzulösen – und sei es mit den Mitteln des Krieges. Das genau ist es, was die Ukraine, Nahost und (möglicherweise) Taiwan verbindet. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 22.4.2024)